Geschichte wiederholt sich (nicht)


Seltsam weit entfernt muten fotografische Dokumente zivilen Ungehorsams der siebziger und achtziger Jahre heute an, auch die Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Massendemonstrationen gegen Nuklearwaffen und Atommeiler wirken wie Szenarien aus einer anderen Welt – Bilder eines Deutschlands, die vielleicht gerade aus dem Grund, dass sein Verschwinden kontinuierlich vonstattenging und die Zäsuren selbst für die Beteiligten rückblickend nicht eindeutig bestimmbar sind, heute ‘vergangener’ scheinen als zum Beispiel vergleichbare Dokumente aus der DDR, deren Konflikte und Alltag durch die Zäsur der Wiedervereinigung weitaus häufiger in den Medien wach gerufen worden sind.

Bilder werden dann mobilisiert, wenn Ereignisse und ihre Geschichte neu verhandelt werden sollen. Einst Beweisstücke und oft sogar Akteure im aktuellen Geschehen werden einige ausgewählte von ihnen später zum Objekt anderer Bewertungsprozesse, die die Verhandlung vergangener Konflikte in die Geschichtsschreibung hinein verlängern oder aus der Perspektive der Gegenwart neue Fragen aufrufen. In Bezug auf die vergangene DDR sind es die Bilder von Massenkundgebungen und später Demonstrationen, die die zusammen mit denen von Staatsoberhäuptern und Funktionären die Geschichte eines totalitären Staates in seine friedliche Beendigung hinein verlängern und auf diese Weise ein historisches Happy End illustrieren. Die Anti-AKW-Bewegung und die Friedensdemonstrationen der bundesrepublikanischen siebziger und achtziger Jahre hingegen lassen sich weniger zu einem harmonischen Ganzen fügen: Zu aktuell sind möglicherweise die noch immer ungelösten Konflikte, prominentestes Beispiel ist der Ausstieg aus der Atomenergie, und auch durch die Verschiebung der Kräfteverhältnisse während der rot-grünen Regierungszeit nach der Wende war für ein eindeutiges Ende der Debatten um Friedenspolitik kein Happy End in Sicht.

Die Installationen von Regina Weiss beschäftigen sich weniger mit dem erfolgreichen Abschluss historischer Epochen als vielmehr mit verschiedenen Schichten von Erinnerung. Geschichte wird in ihren Installationen nicht als eine in sich geschlossenen Erzählung präsentiert, sondern als Archiv, das sich auf visuelle Elemente des Alltags konzentriert. Nicht die Authentizität ihrer Erinnerung oder des rekonstruierten historischen Momentes steht im Vordergrund der Werke, sondern ihr unhintergehbar fragmentarischer Charakter. Wie eine Archäologin allerdings der Zeitgeschichte, birgt sie einzelne Szenen und Motive, legt sie frei und überprüft sie auf ihre Aussagefähigkeit und ihr Potenzial für eine Reinszenierung.

Ihr Vorhaben, Protestformen der Friedens- und der Anti-Atomkraft-Bewegung in den siebziger und achtziger Jahren zum Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Arbeit in Frankfurt am Main zu machen, war bereits zu Beginn ihres Stipendiums formuliert. Aus der Perspektive derjenigen, deren Kindheitserfahrungen in diesem Umfeld geprägt wurden, begann die künstlerische Recherche zu visuellen Erscheinungsformen des Protestes und damit einem Umfeld, das auch für die spätere Gründung der Partei „Die Grünen“ mit ersten Wählergemeinschaften in Frankfurt mittelbar entscheidend war. Regina Weiss ist 1975 geboren – eben in dem Jahr, in dem in Wyhl erstmals der Bau eines Atomkraftwerkes verhindert worden war und die Bewegung in heute unvorstellbarem Maße die Effizienz eines direkten Widerstands auf der Straße bewiesen hatte. Es ist die Zeit, in der sich weitere Kreise der Friedensbewegung formierten, die bis Mitte der achtziger Jahre Hunderttausende auf die Straßen brachten – die erste Massenbewegung der Nachkriegszeit, die es schafft, mit konkreten politischen Zielen über alle sozialen Zusammenhänge hinweg zu mobilisieren.

Am Ende von Regina Weiss’ Auseinandersetzung mit eigenen Erinnerungen und der weiterführenden Recherche steht eine Auswahl von zehn Dokumenten aus den Jahren 1976 bis 1986. Die Presseaufnahmen von direkten Konfrontationen auf der Straße, die in dieser Zeit von verschiedenen Magazinen publiziert wurden, stammen aus Archiven: Demonstrant:innen mit umgehängten Protesttafeln in vorderster Front, Steinwürfe, Teilnehmer:innen, die brutal in den Schwitzkasten genommen oder weggetragen werden. Die spektakulären Szenarien dienten als Vorlage für Reinszenierungen.

Weiss lässt die Szenen und Gesten in einem leeren Atelier von Statist:innen nachstellen, dies jedoch ohne den dazugehörigen Kontext und in einem Outfit, das schon auf den ersten Blick seine Übercodiertheit thematisiert. Die Wirkung der nachgestellten Bilder ist beunruhigend und verwirrend. Denn die visuellen Codes – der Parka, das Palästinenser-Tuch, die weiße Taube auf blauem Grund und das vor dem Körper getragene Plakat – scheinen in der farbigen Darstellung seltsam vertraut und auf obszöne Weise harmlos. Die Gesten hingegen – der Vermummung, des stummen Protestes, der Abwehr eines Angreifers und des Steinwurfs – wirken gespenstisch, archaisch und stilisiert. Als riefen diese Wiedergänger eine kollektiv verdrängte Epoche ins Bewusstsein, nur unzureichend getarnt durch die Bildsprache der Modefotografie. Es entsteht eine Dissonanz, die unter Umständen nur vorläufig ist. Denn es sind gerade die mit konkreter realpolitischer Bedeutung aufgeladenen spezifischen Accessoires der Anti-AKW– und der Friedensbewegung, die bisher nicht durch den sogenannten Radical Chic und die Modeindustrie vereinnahmt und recycelt wurden, während Vermummung und Militanz und auch die ehemals subkulturellen Codes der Rapper-Szene als radikale Gesten längst zum Standardrepertoire der Mainstream-Pop-Industrie gehören. Auch in Bezug auf die Friedenstaube scheint jedoch die Möglichkeit eines modischen (immer auch relativierenden, ironisierenden) Zitates nicht mehr undenkbar.


Von den Bewegungen zum radical chic

Der Pop-Theoretiker Diedrich Diedrichsen verweist auf die „Anti-Mode“ als „die Formel, die den 68ern ein kulturell anpolitisiertes Hinterland erschließen half“ – und beschreibt damit zugleich eine Zeit der Unschuld, in der „ein Bewusstsein von der Kodiertheit der Elemente, mit denen man spielte, noch nicht vorlag“. Eine Perspektive, die heute einzunehmen kaum mehr möglich ist, nachdem spätestens seit dem Ende der neunziger Jahre fast alle Codes für fast jeden Zusammenhang modisch verfügbar sind, lässt man einmal die Sphäre der repräsentativen Politik aus dem Spiel. Regina Weiss untersucht diesen Bedeutungswandel: die mögliche Entleerung, aber auch das Verschwinden der Ausdrucksformen und Symbole, und die Frage, welche Wirkung diese heute noch entfalten.

Indem Regina Weiss einzelne Personen und Personengruppen aus den häufig von Gewalt, immer aber von der direkten Konfrontation geprägten Kontexten der Pressefotos herauslöst, entsteht ein chiffriertes Bild. Aus der unmittelbaren Aktion wird eine Pose. Die Kleidung ist annähernd rekonstruiert; die Buttons, Tragetaschen und Plakate, so stellt sich beim zweiten Blick heraus, sind jedoch bewusst vergrößert, Details wie Schrift und konkrete Slogans sind zugunsten einer zeichenhaften Andeutung reduziert.

Die nachgestellten Szenen scheinen ebenso wie die unkommentierten Performances im Straßenraum, die eine zweite Ebene der Arbeit bilden, die Frage aufzuwerfen, wie und ob die sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre aus heutiger Perspektive noch verstanden werden können. In Weiss’ Reinszenierungen bleiben einzelne Subjekte zurück, deren Gesten des Protestes in der Wiederholung zur Pose geronnen sind. Ihre Bildräume – ob Atelier oder Straße – sind einerseits Testräume und andererseits Display. Die überdimensionierten Codes, mit denen Weiss ihre Statist:innen ausgestattet hat, finden in ihrer Umgebung einen neuen Kontext, der den alten problemlos ersetzt – den White Cube ebenso wie im Straßenraum eine mit dem Radical Chic kokettierende Werbung und das Logo der Dresdner Bank.

Künstlerische Auseinandersetzungen mit Geschichte/n entfalten sich nicht selten an „Materialien“, die im Geschichtsdiskurs als minoritär gelten müssen. Möglicherweise sind es Dokumente, die sich dem Interesse der dominanten Erzählung nicht fügen, weil sie auf das in diesem Narrativ Abwesende verweisen, weil sie zu banal sind oder weil sie es sind, die die Brüchigkeit der zentralen Stränge dieser Erzählung deutlich machen. In dem Maße, in dem die Geisteswissenschaften und auch die Geschichtswissenschaft im vergangenen Jahrhundert zum Gegenstand kritischer Selbstreflektion geworden sind, ist auch die Befragung von Geschichte ein wichtiges Sujet der bildenden Kunst geworden. Künstlerinnen und Künstler der Nachkriegsgeneration – Gerhard Richter, Anselm Kiefer, Christian Boltanski und Hans-Peter Feldmann, vor allem aber auch die maßgeblichen Vertreter:innen der Konzeptkunst der neunziger Jahre, Renee Green, Mark Dion, Lorna Simpson und auch die neowilden Wegbereiter des Gesamtkunstwerks Jonathan Meese und Thomas Hirschhorn, um verschiedene Ansätze und Traditionen zu erwähnen – haben historische Erzählstrukturen befragt, ihre Auslassungen thematisiert und das in ihr angelegte Potenzial dramatischer Überhöhung und Fiktionalisierung freigelegt.


Zwischen den Oberflächen

Regina Weiss’ künstlerische Arbeiten entwickeln sich aus der Verbindung von subjektiven biografischen Ansätzen und ihrer Recherche, mit der sie Wege in verschiedene Richtungen einschlägt: Ihr Ausgangspunkt liegt nicht in der historischen Rahmenerzählung, sondern im visuellen Material des Alltags und führt von hier ausgehend durch die verschiedenen Schichten von Erinnerung und medialer Berichterstattung. Empirisches Vorgehen, das heißt der Zugriff auf historisches, nicht-fiktionalisiertes Material, ist hier wieder möglich und bleibt zugleich in Bezug auf seine Authentizität infrage gestellt. Das Performative der Erinnerung selbst, die Logik, mit der Fragmente von überlieferter Geschichte eigener Erinnerung in den Erfahrungshorizont der Gegenwart importiert werden – diese „Bewegung“ steht im Vordergrund der in diesem Katalog dokumentierten Arbeiten von Regina Weiss.

Ihre Werkgruppe „filmset“ entwickelt Weiss ausgehend von Aufnahmen der Fotografin Sybille Bergemann. Jeder von uns kennt das Bedürfnis, sich Menschen auf der Straße in einem privaten Umfeld vorzustellen. Aus diesem Begehren und der Frage nach dem Unterschied zwischen privaten Räumen zu DDR-Zeiten und heute baut sie Miniatur-Rekonstruktionen der u. a. von Bergemann fotografierten Wohnzimmer der sechziger und siebziger Jahre. In einem nächsten Schritt entstehen Videoaufnahmen von Passant:innen und werden von Weiss in Aufnahmen der rekonstruierten Alltagsinterieurs hinein montiert. Montagen, die der Suche nach einer Alltagsgeschichte entsprechen, die man am Rockzipfel greift und zu sich heranzieht und mit den eigenen Erfahrungen kombiniert – weder sind es die authentischen Settings, noch bezeugt das Outfit, geschweige denn die Identität der ihr nicht bekannten Personen die historische Realität der DDR. Das standardisierte Warenangebot der Deutschen Demokratischen Republik kombiniert Weiss mit seinem historischen westlichen Pendant und dem der aktuellen großen Billighersteller und Möbelhäuser. Der Unterschied lässt sich kaum benennen. In einer ersten Installation der Arbeit „filmset“ im Rahmen der Ausstellung „Unbekannte Schwester, unbekannter Bruder“ im Kunsthaus Dresden (2003/4) zeigt Weiss Ausschnitte der eigenen Annäherung. Das Miniaturmodell der Wohnung, die als „filmset“ dient, ist auf einem Arbeitstisch zu sehen, und die Wände sind mit Auszügen von Interviews zur Nachwendezeit und mit Seiten aus Produktkatalogen tapeziert. Aus der Rauminstallation macht Weiss in der Kölner Ausstellung „Deutschland sucht …“ ein Raumelement, das in sich die Parallelen eines west- und ostdeutschen Wohlstandsversprechens vereint und zugleich dessen Paradox offen legt: Massenangebot bei gleichzeitiger Individualisierung.

Von einer Ansammlung von Stickern, die als Detail und Erinnerung an die eigene Sozialisierung mit als Accessoire verfügbaren Symbolen die normative Ordnung der Möbel nur scheinbar durchbrechen – unvergessen ist für alle, die in den achtziger Jahren aufgewachsen sind, die traute Eintracht von „Atomkraft-Nein-Danke“-Stickern neben „Ein-Herz-für Kinder“ und ersten Marken-Logos – verläuft ein roter Faden zu der späteren Arbeit „Bewegung/ movement“.

Weiss untersucht die Alltagsmaterialien, Oberflächen und Umgebungen. Die personenbezogene Erzählung lässt sich hinter den Requisiten und Szenarien nur mehr erahnen, ist austauschbar. Die Annäherung an das Selbst-Erlebte ebenso wie die an eine verallgemeinerbare Geschichte muss sich mit der Rekonstruktion abfinden. In der Unvermeidlichkeit ihrer Reinszenierung – und der Unvollständigkeit, die stets aus dem Heute ergänzt werden muss – lässt sich das eine vom anderen schwerlich trennen. So verflechten sich auch in der Installation „Haus in T.“, Regina Weiss’ Diplomarbeit, Kindheitserinnerungen mit dem Blick aus der Gegenwart. Von dem in „einer typischen Siedlung der siebziger Jahre in Deutschland“ erbauten Haus bleiben die Materialien, die in der formalen Abstraktion und Präsenz einen Eindruck des Anspruchs seiner Erbauer:innen und Bewohner:innen vermitteln: Ein massives Quadrat aus schweren Holzbohlen erhebt sich in der Mitte der Installation, darüber ebenso überdimensioniert ein Vlies aus Schurwolle. Im Hintergrund auf kleinen Displays sind schemenhaft Familienfotos erahnbar, überblendet mit Aufnahmen von Innenräumen und einer bebauten Landschaft, vermutlich der Umgebung jenes Einfamilienhauses, dessen Materialität und Atmosphäre durch die skulpturale Struktur im Zentrum der Installation wach gerufen wird. Die erinnerte Architektur bleibt, ähnlich wie das Outfit und der Gestus der Demonstrant:innen und die Interieurs der sechziger und siebziger Jahre in den anderen beiden Arbeiten von Regina Weiss, seltsam alterslos, obwohl die Wirkungen, die einzelne Details hervorrufen, sehr wohl einem historischen Ort verhaftet sind.

Es sind immer wieder historische Verortungen, die konstitutiv für Weiss’ eigene Gegenwart sind und noch wenig von der Patina angesetzt haben, die Begegnungen mit weiter zurückliegenden Phasen prägt. Konsequent vermeidet sie das direkte Zur-Schau-Stellen von Fotografie als scheinbar authentisches Dokument ihrer Entstehungszeit. Ihre Fokussierung auf Oberflächen und Design ist zunächst überraschend. Sie ist jedoch auch adäquate Reaktion auf die Herausbildung eines neoliberalen Subjekts seit den achtziger Jahren, dessen codierte Identitätsnachweise bis in die Gestaltung des Alltags hinein ein Spektrum aufweisen, das für frühere Epochen kaum vorstellbar schien. Von der „Anti-Mode“ bis hin zur Wohnungseinrichtung oder dem „Design“der Ernährung – die Ausdifferenzierung der Individualitäten hat mittlerweile alle Bereiche der Gestaltung des Lebens erreicht und ist ohne Konsumentscheidungen – auch die der Verweigerung – gar nicht mehr denkbar.

Die künstlerische Arbeit wird bei Regina Weiss zum Archiv des Erfahrbaren und der Entscheidungsmöglichkeiten, die im Erfahrbaren bereits verankert liegen. Im Unterschied insbesondere zu den Positionen einer aktualisierten Konzeptkunst der neunziger Jahre thematisiert sie Geschichte nicht als Konstruktion, als Dispositiv einer Macht oder Regierung, sondern vielmehr als einen Prozess der Annäherung und sich selbst als Teil dieses Prozesses. In einer künstlerischen Annäherung an den Gegenstand durch die Kombination von konzeptueller Arbeitsweise und materialästhetischer Untersuchung begegnet Weiss master-narratives mit Empirie. Ihre Arbeiten fragen nicht danach, was erinnert werden muss, sondern was von einem gegebenen, immer subjektiven Standort aus, überhaupt erinnert werden kann.

Ob sich jedoch in den Zwischenräumen – zwischen Button und Jacke, Sticker und Regal, Wand und Holzfußboden, also den immer schon andernorts vorgeprägten Codes und unseren Entscheidungen – doch andere Subjektivitäten und Wertvorstellungen verbergen, die geisterhaft durch die Fugen der vorgegebenen Programmierung entkommen und so jenseits der Materialien an einem geheimen Ort eigene Ordnungen erstellen können: Das ist die Frage nach dem anderen Ort von Geschichte(n), der wir in ihren Arbeiten ausgesetzt werden.


Text: Christiane Mennicke-Schwarz