Stadt im Vorübergehen


Regina Weiss kommt von der Bildhauerei her. Sie denkt und sieht physisch – dem Tastbaren verpflichtet. Die Serie Stadt im Vorübergehen stellt ihren ganz persönlichen Versuch dar, Stadt auszukundschaften und zu verstehen – und zwar im Gehen und Studieren, weniger im intentionslosen und ziellosen „Flanieren“ im Sinne von Walter Benjamin. Entsprechend Regina Weiss’ allgemeiner künstlerischer Herangehensweise wurde die Reihe über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelt, wobei bereits im Vorfeld mehrere Arbeiten ähnlicher Thematik entstanden sind.

Eine Arbeit der Serie heißt Bodenstück/Gehweg. Sie wurde von Weiss per Hand in Ton hergestellt und abschließend in keramische Gießmasse gegossen. Dieses „Bodenstück“, dessen Oberfläche nach einer grobkörnigen Gehwegplatte modelliert wurde, ist das Ergebnis des Erlebens und Untersuchens von Phänomenen des Städtischen, das Weiss als Rezipientin und als Akteurin vollzieht. Was die Künstlerin dabei macht, kann sowohl als Erkundung einer städtischen Umgebung als auch als Forschung beschrieben werden: Sie bildet ab, was ihr Blick auf den Boden im Laufen aufnimmt. Dabei konzentriert sie sich auf eine gesteigerte Wahrnehmung. In ihr Bodenstück, das auch als „expanded painting“, als Malerei, als Bild, dessen Abbildcharakter und Stofflichkeit von der Künstlerin besonders betont wird, bezeichnet werden kann, sind auch jene Unschärfen einmodelliert, die beim Gehen und durch den wandernden Blick entstehen. Denn das Blickzentrum wurde mit Pigment extra herausgehoben und ist an dieser Stelle in der Bildmitte besonders haptisch.

In ihrer Bildhaftigkeit kann Regina Weiss’ Arbeit als Malerei betrachtet werden, sie ist aber zugleich auch ein plastisches Objekt und somit sowohl als zwei- als auch als dreidimensional erfahrbar. Die Künstlerin hat bei der Erarbeitung einen Hauptstandpunkt gewählt, aber ihr Werk ist rundansichtig und es ist aufschlussreich, um das „Bodenstück“ herumzugehen, um alle Details erkennen zu können. Schönheit zeigt sich hier in der nach der Natur nachgestaltenden Präzision. Aber zugleich in der autonomen Form und einer leisen kontrapunktischen Abweichungsstrategie. Um zu diesem Ergebnis zu kommen, hat Regina Weiss zuerst Fotografien angefertigt und dann Bleistiftzeichnungen, die ebenso feinfühlig wie analytisch anmuten, um die Verlaufskanten ihres Beobachtungsobjekts genau zu fixieren. Ein Verfahren, das sie auch bei den beiden anderen Objekten der Serie angewendet hat. Die Zeichnungen dienten wiederum als Ausgangspunkt für ihre plastische Formulierung. Weiss’ Arbeitsprozess bildet somit eine subtile Art der Transformation, ein Hin- und Hergleiten zwischen Zwei- und Dreidimensionalem, bei dem die Untersuchung menschlicher Sensibilität, wie sie die Malerei schon lange kennt, in die plastische Sprache der Bildhauerei übertragen wird, um dort eine eigene und neue Geschichte des Feingefühls im Bereich des Taktilen zu entfalten.

Ein zweites Bodenstück mit dem Titel Straße unterscheidet sich leicht in der Oberflächenstruktur gegenüber dem vorher genannten. Ein Asphaltausschnitt wurde etwas offener modelliert, ohne Begrenzung der Außenkanten. Das Stück zeigt den Ausschnitt einer Straße, in den der flüchtige Blick nach unten beim Überqueren derselben eingearbeitet ist. Ein Blick, bei dem sich für den Bruchteil einer Sekunde ein kurzer Augenblick, ein Moment des ephemeren Sehens mit festen Materialien verbindet. So ist auch hier wie bei der plastischen Umsetzung von Bodenstück/Gehweg die periphere Unschärfe einmodelliert, die beim Gehen und durch den schweifenden Blick entsteht.

Das dritte Objekt der Serie trägt den Titel Wandstück/Rauputz. Dieses besitzt kein Blickzentrum, vielmehr ist in diesem Fall die Bewegungsperspektive, wie sie etwa beim Vorbeilaufen an einer Hauswand registriert werden kann, dargestellt. Die Oberflächenstruktur entspricht der Bewegungsrichtung. Sie beginnt mit gröberen Strukturen, die feiner werden und in der Ferne auslaufen. Das Stück ist farbig gefasst. Der Farbverlauf von dunkel nach hell folgt der inhärenten Werkgesetzlichkeit. Wie auch die beiden anderen, ist das Objekt sehr intensiv gearbeitet und vermittelt das feinstoffliche Interesse der Künstlerin sowie ihre Konzentration auf kleinste Details. Damit belegt sie die Einschätzung, dass eine wesentliche Anschauungsweise der Wirklichkeit zu begegnen, darin zu finden ist, sich auf die Sensibilisierung von Intellekt und Intuition zu konzentrieren, und das sowohl mit Akribie als auch mit Trennschärfe. Regina Weiss’ Credo heißt minimalistischer Realismus kontra Bewusstseinskonfusion. Ihre Weltbetrachtung im Auspendeln von Konkretion und Abstraktion, Mikro und Makro stellt ihr Angebot temporärer Arbeitshypothesen dar. Dies spiegelt sich auch in einer zur Installation ausgearbeiteten Version von Stadt im Vorübergehen wieder, bei der zwei liegende Podeste und ein Wandelement, die als Displays die Objekte tragen, den Raum rhythmisieren. Die Sockel sind asymmetrisch konstruiert. Durch die entstehende Schattenbildung scheinen die Objekte zu schweben. Die Dynamik der Sockelelemente, unterstützt durch jene des keilförmigen Elements an der Wand, versetzt auch die Besucher:innen in Bewegung. Sie werden auf diese Weise von bloßen Betrachter:innen zu Teilhaber:innen an Weiss’ Erfahrung.

Regina Weiss sucht mit ihren außergewöhnlich unaufdringlichen, ja demutsvollen Werken Transparenz und Lesbarkeit zu gewähren, wodurch auch stadtpolitische Bewertungen vorgenommen und urbane Reflexionen ermöglicht werden können. Indem sie ihr eigenes Empfindungsvermögen untersucht, beschreibt sie das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und einem anonymen städtischen Umfeld. Das Individuum, wie es in Weiss’ Arbeiten zutage tritt, ist indes vom Kollektiven nicht losgelöst. Den Ausgangspunkt ihrer Arbeit bildet in diesem Sinn eine existenzielle Frage, wie sie sich viele Bewohner:innen urbaner Räume stellen mögen. Es ist die Frage nach den Spuren der eigenen lebendigen Anwesenheit.


Text: Christoph Tannert