Erinnern als zukunftsgerichteter Prozess – Auf den Spuren von Monumenten mit Regina Weiss


Regina Weiss’ Arbeit „Zur Gegenwart einer vergangenen Erinnerungskultur“ lenkt den Blick auf eine Lücke. Diese wird erkennbar zwischen den Ansprüchen der Erinnerungskultur der DDR auf eine antifaschistisch begründete Zukunft einerseits und der Gegenwart einer gesamtdeutschen Erinnerungspraxis andererseits, in der die Visionen jenes untergegangenen Staats nicht eingelöst werden können. Weiss macht damit nüchtern sichtbar, was meist übersehen wird: Die Widersprüche zwischen einstigen Hoffnungen und heutigen Praktiken des Erinnerns, die meist unverbunden nebeneinander stehen. Damit wirft die Künstlerin weitreichende Fragen auf.

Ausgehend von einer Publikation des Instituts für Denkmalpflege reisen die Betrachtenden mit Weiss von Berlin-Mitte aus nach Linde, Börnicke, Pasewalk, Kyritz, Niederlehme, Zernitz, Geltow, Wusterhausen, Altwarp, Berndshof, Jatznick. Der Herausgeber des Buches, welcher die Reise choreografiert, ist das in den 1950er Jahren in der DDR gegründete Institut für Denkmalpflege. Dieses diente der zentralisierten Steuerung von Wahrnehmungspraktiken der neu zu interpretierenden Vergangenheit, die die Zukunft des jungen Staats legitimieren sollte. Deshalb waren seine umfassenden Tätigkeiten richtunggebend für die Bewertung der Nationalgeschichte in ihrer marxistischen Auslegung, die Pflege vorhandener und Errichtung neuer Monumente sowie die flächendeckende Vermittlung dieser als verbindlich angesehenen Geschichtsdeutungen, häufig durch Publikationen. Der Blick der Künstlerin und mit ihm der Betrachtenden, der sich vom Institut für Denkmalpflege leiten lässt, das 1974 unter dem Titel „Gedenkstätten“ Ereignisse und Orte des antifaschistischen Geschichtsbildes aneinanderreihte, findet sich zumeist in kleineren Ortschaften wieder.1 Der Anspruch umfassender Deutungshoheit über die Vergangenheit begnügte sich nicht mit repräsentativen nationalen Erinnerungsprojekten in der Hauptstadt der DDR und anderen zentralen Plätzen des Landes, sondern strebte vielmehr auch an die abgelegeneren Orte, die sich den übergeordneten Sinnstiftungspraktiken nicht entziehen sollten.

Warum dieser symbolpolitische Aufwand als notwendig erschien, wird bei näherer Betrachtung der Inhalte deutlich: Wem wird hier gedacht? Den politischen Häftlingen des KZ Sachsenhausen auf einem Todesmarsch, 500 im KZ inhaftierten „Antifaschisten“ („hauptsächlich Mitglieder der KPD, aber auch linksstehende SPD-Mitglieder und bürgerlich-liberale Antifaschisten“), „allen Opfern des Faschismus“, „Soldaten und Offiziere[n] der Sowjetarmee“, dem Verkünder der Bodenreform Wilhelm Pieck, Ernst Thälmann nebst „Mitglieder[n] des ZK der KPD, [den] Bezirkssekretäre[n] der KPD und [den] Redakteure[n] der wichtigsten Presseorgane der KPD und führende[n] Funktionäre[n] der proletarischen Massenorganisationen“, 48 durch „amerikanischen Tieffliegerbeschuß“ getöteten jüdischen Frauen, Kindern und Männern, dem im KZ Sachsenhausen ermordeten Heinrich Luther, der die KPD Unterbezirksleitung während des Kriegs mit wiederaufgebaut hatte, und seinen „Genossen“, von „Faschisten“ erschossenen flüchtigen Zwangsarbeitern, 200 Kriegsgefangenen, dem in Plötzensee „von den Faschisten ermordeten Genossen“ Max Matern, den „bewaffnete[n] Arbeiter[n]“ aus Torgelow und Umgebung Fritz Bauer und Robert Grafunda, die bei der Niederschlagung des Kapp-Putsches im Kampf gegen die Reichswehr gefallen sind und schließlich zweier „von SS-Banditen erhängt[en]“ „junge[n] deutsche[n] Soldaten“. Die Lektüre erfordert eine gewisse Vertrautheit mit marxistischer Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts – nicht nur, was die Daten und Ereignisse, sondern auch was die Terminologie anbelangt. Und eben diese Kenntnis zu verbreiten, war die Kernaufgabe der zentralisierten Geschichtspolitik der DDR. Dies galt umso mehr, als die Teilung Deutschlands die Bezüge zur Nationalgeschichte interpretationswürdig erscheinen lassen musste.2 Deshalb verstehen sich viele der erwähnten Figuren oder Gruppen auch rückblickend nicht ohne weitere Erläuterung. Doch vor dem geschlossenen Wahrnehmungssystem, das durch die sozialistische Parteiideologie, die zentralistische Steuerung, die beauftragten Bildhauer:innen bzw. Architekt:innen und die alltäglichen Gedenkpraktiken der Bürger_innen zustande kommen sollte, steht heutige Betrachtende nicht selten achselzuckend.

Weiss’ fotografische Arbeit „Zur Gegenwart einer vergangenen Erinnerungskultur“ setzt hier an, analysiert, erklärt aber nicht, sondern nimmt die Betrachtenden mit in die Tiefen der symbolischen Schichten, auf die sich das Unverständnis gründen. Formal bleibt sie beim Format der Publikation des Instituts für Denkmalpflege, deren historischen Text von 1974 über die jeweiligen Monumente sie im originalen Satz wiedergibt. Dadurch wird der gesetzte Text selbst zum Bild. Von der Vergangenheit der DDR-Erinnerungskultur bekommen die Betrachtenden nicht mehr zu sehen als diesen ikonisierten Text. Die in der Publikation der 1970er Jahre enthaltenen historischen Fotografien von den Monumenten, denen die Beschreibungen jeweils zugeordnet waren, bleiben eine Leerstelle in Weiss’ Arbeit. Die einst durch die Gedenksteine, Gedenkstätten, Mahnmale, Gedenktafeln und Ehrenfriedhöfe geschaffene in Stein gemeißelte und in Metall gegossene Sichtbarkeit der antifaschistischen Geschichtsdeutung enthält die Künstlerin den Betrachtenden vor. Dies vermag die Imagination der Betrachtenden anzuregen, denn das Erscheinungsbild der Monumente zur Zeit der Veröffentlichung der Publikation entspricht nicht dem heutigen, dies macht Weiss klar.

Obwohl sich Weiss streng an das topographische Koordinatensystem hält, das die Publikation von 1974 vorgibt, sind die Orte weltanschaulich nicht mehr zu erschließen. Auf den zwischen 2011 und 2016 angefertigten Fotografien der einst historisierten Orte, die Weiss dem historischen Text gegenüberstellt, zeigt sich die nicht nur durch die Zeit, sondern durch den Systemumbruch bedingte Lücke: Rost und Verwitterung, verwehrte Zugänge, Unkraut und nicht mehr lesbare Inschriften – selbst Baugruben und Parkplätze statt der Monumente. Wo neue Kontexte entstanden sind, hebt Weiss das Spannungsverhältnis zwischen einstiger Heroisierung und heutiger Unsichtbarkeit am eklatantesten hervor: Dies gelingt ihr in zugespitzter Form etwa anhand der Erinnerung an die Verkündigung der Bodenreform durch Wilhelm Pieck 1945, woran in den 1970er Jahren durch eine Gedenktafel erinnert wurde. Die im Text als „demokratisch“ gelobte Reform, die „ein jahrhundertealtes Unrecht beseitigt und de[n] Boden wieder in die Hände der Bauern gegeben“ habe, stellt Weiss dem heutigen Ort gegenüber: einer grau gestrichenen glatten Rückwand eines wohl kürzlich errichteten Gebäudes mit Belüftungsanlage und Parkplatz, der sich von der postindustriellen Umgebung aus Backstein, Schornsteinen und Ziegelwerk abhebt. Angesichts dieser neuen Szenerie und der hier geparkten hell- und dunkelgrauen PKW liest sich der Text „Der Boden wurde den landarmen Bauern, Landarbeitern und Umsiedlern übergeben“ im Kontrast geradezu ironisch.

Die Monumente sollten eine marxistische Deutung der Vergangenheit lebendig halten und somit die Zukunft des untergegangenen Staats legitimieren helfen. Die im Moment ihrer Erschaffung den Monumenten zugedachte Funktion war die sichtbarer Unsterblichkeit. Da die Weltsicht, der sie Ausdruck verleihen, durch den Systemwechsel ihre Gültigkeit verloren hat, bleiben sie als Relikte zurück. Diese sind nur mehr die Spur einer Ideologie, deren aufgehobene Wirkmächtigkeit sie heute beweisen. Weiss zeigt folglich nicht die spektakulären Bilderstürme, die in den 1990er Jahren zum Sturz und zur Umdeutung von sozialistischen Denkmälern im postsozialistischen bzw. postsowjetischen Raum geführt haben. Sie bewegt sich vielmehr jenseits der ikonoklastischen Praktiken auf den Spuren der Relikte eines Systems mit negativem Vorzeichen: sie führt den Betrachtenden Chiffren vor Augen, die nicht mehr sagen, was gilt, sondern was nicht mehr gilt. Die dargestellten Heroen von gestern sind keine Vorbilder für heute und enthalten keine Sinnstiftung für morgen. Trotz des dokumentarischen Gestus, den die Künstlerin durch die Zuhilfenahme der historischen Publikation und die topografische Genauigkeit verfolgt, führt sie die Betrachtenden unweigerlich in Gefilde der Ungewissheit. In ihrer Bildsprache verbindet die Künstlerin ihre Sensibilität für den Raum und für die Präsenz der darin errichteten dreidimensionalen Plastiken mit dem analytischen Instrument der Fotografie, mit dem sie die entstandene erinnerungskulturelle Leerstelle benennt. Die Archäologie, die sie durch das Herausschälen der symbolischen Schichten der Erinnerung unternimmt, hinterlässt die Betrachtenden trotz der konkreten historischen Bezugnahmen und Orte in einem Schwebezustand, in dem Ort und Zeit neu bestimmt werden müssen. Eine Aktualisierung der vergangenen Botschaft ist in Anbetracht der von der Künstlerin dokumentierten Gegenwart nicht mehr möglich.

Als Vertreterin einer dritten Generation vollzieht die Mitte der 1970er Jahre geborene Künstlerin eine Erinnerungsarbeit an den Zweiten Weltkrieg, die charakteristischerweise diskursanalytisch angelegt ist: Sie zeigt Widersprüche auf und stellt Fragen, deren Beantwortung drängt, aber nicht bei ihr liegt. Diese post-heroische bzw. post-ideologische Haltung wird besonders deutlich anhand der in Berlin-Mitte festgehaltenen Szene, in der die Gedenkplakette zu Ehren zweier Soldaten mit einem hier heute ansässigen Schnellrestaurant kontrastiert wird. Entgegen dem damals propagierten sozialistischen Weltbild kann es als Inbegriff kapitalistischer Konsumkultur verstanden werden. Die Brüche deutscher Erinnerungssemantiken treten hier auch deshalb besonders stark hervor, weil im Text der 1970er Jahre um Sympathien für die als „junge deutsche Soldaten“ Geehrten geworben wird, denen „SS-Banditen“, welche sie erhängt hätten, gegenübergestellt werden. In der hier vorgenommenen Unterscheidung zwischen einerseits positiv konnotierten deutschen Akteuren, die als „jung“ charakterisiert und ehrenden Gedenkens für würdig erachtet werden, und andererseits nationalsozialistischen, die allein mit der Organisation der Schutzstaffel in Verbindung und als „Banditen“ bezeichnet werden, liegt der fragwürdige Kern der antifaschistischen Deutung des Zweiten Weltkriegs. In der DDR-Erinnerungskultur wurde unterschieden zwischen dem faschistischen Erbe auf der einen Seite, in dessen Nachfolge die BRD verstanden wurde, und der davon als gänzlich unbefleckt verstandenen antifaschistisch interpretierten deutschen Nationalgeschichte auf der anderen Seite. Die Externalisierung der deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs aus der DDR-Erinnerung findet ihren Ausdruck in derselben Plakette auch in dem Begriff des als „verbrecherisch“ gebrandmarkten „Hitlerkrieges“, der folglich der Person Adolf Hitler, nicht aber der deutschen Bevölkerung zur Last gelegt wird. Ausgerechnet am Bahnhof Friedrichstraße, wo die Grenzübergangsstelle zwischen Ost- und Westberlin auch „Tränenpalast“ genannt wurde, macht Weiss die Widersprüchlichkeit zwischen den deutsch-deutschen Erinnerungspraktiken sichtbar. Neben der 1952 eingerichteten und 1999 ohne Kommentierung erneuerten Plakette erlaubt die Künstlerin den Betrachtenden einen Blick in die Filiale des Burgerrestaurants, wo mehrere Soldaten der Bundeswehr gemeinsam an einem Tisch essen. Diesen Moment festhaltend packt Weiss ein ganzes Bündel diskussionswürdiger Fragen der deutsch-deutschen Erinnerungskultur am Schlafittchen: Sie fragt, welche Auswirkungen die unterschiedlichen Auffassungen von der deutschen Geschichte auf politische Fragen der Gegenwart haben. Wie etwa werden Einsätze der deutschen Bundeswehr vor allem im Ausland vor dem Hintergrund der erinnerten und verdrängten Schuldgeschichte heute in Ost und West bewertet? Dabei stehen die in den Denkmälern von einst verhandelten Hauptfragen einer Definition von „Frieden“ und „Krieg“ (bzw. Militarismus) zur Legitimation der heutigen Gesellschafts- und Politikform zur Debatte. Die Bedeutung der vergangenen Erinnerungskultur wird durch Weiss’ Blick, den sie den Betrachtenden eröffnet, überaus gegenwärtig.

Indem Weiss die Betrachtenden nüchtern auf die Relevanz einer Lücke zwischen den Deutungen stößt, lässt die Künstlerin sie mit der Frage nach einer Vision für die Zukunft zurück: Kann es eine gemeinsame deutsch-deutsche Erinnerungskultur in Hinblick auf das 20. Jahrhundert geben? Wie ist mit den für den Systemwechsel typischen Verschiebungen von Semantiken umzugehen, insbesondere in Anbetracht der spezifisch deutschen Situation eines wiedervereinigten Staats, in dem sich über Jahrzehnte divergierende Vergangenheitsinterpretationen herausgebildet haben? Wie kann eine verbindliche gemeinsame Legitimation der Gegenwart trotz der konfligierenden Deutungen der Vergangenheit entstehen? Indem Weiss die Spuren der Monumente verfolgt, lädt sie die Betrachtenden zu einem Dialog ein, in dem neue Narrativierungen für die Zukunft zur Debatte stehen. Es kann als besondere Qualität von Regina Weiss’ Arbeit gesehen werden, dass sie den Betrachtenden die Erinnerung als zukunftsgerichteten Prozess begreiflich macht und sie damit gleichsam zu einer aktiven Auseinandersetzung mit den von ihr aufgeworfenen Fragen auffordert. Damit schafft sie eine Sichtbarkeit im Raum der Kunst (oder: diskursiven Rahmen) für die im öffentlichen Raum kaum noch lesbaren Zeichen und lenkt somit den Blick der Betrachtenden von scheinbar überholten Fragen der Vergangenheit auf drängende Diskussionen der Zukunft.

1 Die Publikation ist erschienen im Urania-Verlag (Leipzig/ Jena/ Berlin).
2 Zur Entschließung zur politischen Positionierung des Instituts für Denkmalpflege Mitte der 1950er Jahre siehe Schumacher-Lange, Silke: Denkmalpflege und Repräsentationskultur in der DDR. Der Wiederaufbau der Straße Unter den Linden 1945-1989. Dissertationsschrift, Universität Hildesheim 2011.


Text: Dr. Hannah Maischein