ein kleines Stück Unsichtbarkeit


Bereits seit Längerem beschäftigen sich die Künstler*innen Wenfeng Liao, Regina Weiss, Bignia Wehrli und Benno Hinkes damit Unsichtbares, das unsere alltägliche Erfahrungswelt begleitet, sichtbar zu machen. Der Begriff des ‚Unsichtbaren‘ umschreibt dabei all jenes, was zwar vorhanden ist, sich jedoch unserer Wahrnehmung entzieht. Dinge, die nicht mit bloßem Auge gesehen werden können; Prozesse, die auf Grund ihrer langen Dauer im Verborgenen bleiben; Zustände und Phänomene, die übersehen oder sogar negiert werden. In ihrer gemeinsamen Ausstellung bespielen die vier Künstler*innen zusammen einen Raum, in dem Unsichtbares, Verborgenes oder Vergessenes (wieder) ans Licht kommt.

Die gemeinsame Bewegung, die dabei vollzogen wird, könnte mit der des französischen Autoren Xavier de Maistre (1753-1852) verglichen werden, der mit seiner berühmten Reise um mein Zimmer kurzer Hand sein eigenes Zimmer zur ganzen Welt erklärte. Dabei stößt er auf das Unvertraute im Vertrauten. Von Gegenstand zu Gegenstand ‚reisend‘ entdeckt de Maistre all jene Dinge, die seiner Aufmerksamkeit entglitten, von ihm noch nie bemerkt oder wahrgenommen worden waren. Er beginnt deren Zusammenhänge zu erforschen und erobert sich auf diese Weise einen für ihn bisher verborgenen ‚Kontinent des Unsichtbaren‘, der die Landkarte seines eigenen Lebens zu ergänzen scheint.

Ähnlich wie Xavier de Maistre lassen sich auch die vier Künstler*innen vom Sichtbaren auf die Spuren des Verborgenen, Unsichtbaren und Unvertrauten im vermeintlich Vertrauten leiten. Und ebenso wie der Autor werfen auch sie einen genauen Blick auf ihre alltägliche Umgebung. Anders jedoch als er verarbeiten Liao, Weiss, Wehrli und Hinkes dabei die oft flüchtigen Spuren dessen, was sich unserer Wahrnehmung im Alltag entzieht mit bildhaften und räumlichen Mitteln in den Medien Zeichnung, Malerei, Fotografie, Objekt und Installation. Im Zusammenspiel ihrer Arbeiten verdichten, verbildlichen und verräumlichen sich die Spuren des Unsichtbaren zu einer Art ‚Landkarte des Alltäglichen‘, deren Gegenstand nicht das Bekannte, sondern dessen weiße Flecken sind.

Wie gefährlich diese unerforschten Zwischenräume bisweilen sein können, spiegelt sich auf subtile Weise in den Arbeiten von Wenfeng Liao wider. Seine Bilder behandeln oft paradoxe und skurril anmutende Situationen. Er zeigt in ihnen Momentaufnahmen, Augenblicke, in denen die abgebildeten Bewegungen, Körperteile oder Gegenstände ihre eigene absurde Komik entfalten, indem sie sich selber zu verhindern scheinen. Erst auf den zweiten Blick enthüllt sich für den Betrachter dabei die Tiefe des Abgrunds über den sich die einzelnen Motive bewegen. Das Hintergründige in Wenfeng Liaos Arbeiten könnte als Verweis auf das innere Gleichgewicht des Menschen gelesen werden, dessen Selbstsicherheit durch kleine Abweichungen vom Erwarteten im alltäglichen Geschehen ohne Vorwarnung ins Wanken geraten kann. So verhält es sich auch in seinen in der Ausstellung zu sehenden Arbeiten wie dem Bild Verlängerter Weg, in dem eine Leiter zum Teil eines ebenen Weges wird und diesen dabei um ihre Höhe verlängert. Das Bild_ A walking potato_, gemalt in Öl auf Leinwand, beschreibt der Künstler selbst folgendermaßen: „Als die Kartoffel zu Keimen begann, erschöpfte sich ihre Form. Ich stellte sie auf den Kopf, da wurden ihre Keime zu den Beinen eines unbekannten Tieres, das im Nebel umher wandelte.“ In Still alive zeigt Liao eine Szene, die in unauflösbarer Spannung gefangen ist von großer, nahezu meditativer Ruhe und höchster Gefahr: Eine Fliege sitzt ruhig neben dem Feuer einer brennenden Kerze. Für den Künstler ist dies der Moment die Frage zu stellen: „Is the still life still alive?“ Die Frage nach Veränderung sowie der Gegensatz von Ruhe und Bewegung spielen auch in der Installation Kartoffelturm eine im wörtlichen Sinne tragende Rolle. Aus 80 Kartoffeln und 20 Glasscheiben hat der Künstler einen nahezu perfekten Turm gebaut. Während der Ausstellung sprießen die Kartoffeln. Die Vitalität ihres Wachstums wird die Perfektion der Architektur allmählich zerstören, vielleicht sogar zum Einsturz bringen.

Auch in den Arbeiten von Regina Weiss spielt Unsichtbares, das in dem, was jeden Tag wiederholt gesehen und erfahren wird, verborgen liegt, eine zentrale Rolle. Anders als bei Liao beschäftigt sie sich dabei nicht mit der Doppelbödigkeit, als vielmehr der Flüchtigkeit unserer Realität. So untersucht die Künstlerin beispielsweise in ihrer aus Objekten und Zeichnungen bestehenden Serie_ Stadt im Vorübergehen_ ihre eigene Bewegung durch die Stadt, wobei ihr Augenmerk gerade darauf liegt, was sie eigentlich sieht, wenn sie vermeintlich ‚Nichts‘ sieht, wie z. B. beim routinemäßigen Blick vor die eigenen Füße im Gehen. In ihrer aktuellen Arbeit Ich bin, doch was, weiß niemand, begibt sich Weiss nun ähnlich wie De Maistre auf eine Reise durch ihr eigenes Zimmer und taucht ein in die Ritzen und Fugen zwischen Wänden, Bodendielen und Möbeln. Was sie dort findet, ist das, was wir im Allgemeinen als ‚Staub‘ bezeichnen. Mithilfe von Zeichnungen untersucht sie unter dem Mikroskop diesen mit bloßem Auge kaum definierbaren Stoff, bei dem es unklar ist, ob er das Phänomen eines Zerfallsprozesses oder vielleicht der Beginn von etwas ist, das gerade dabei ist neu zu entstehen. Die ersten vier auf diese Weise entstandenen Zeichnungen sind in der Ausstellung zu sehen. Ebenfalls um Wahrnehmung geht es in den Texten Wolkenbeobachtungen, installiert an den Fensterflächen der Galerie. Mit ihnen versucht die Künstlerin die Stofflichkeit, Farben und Bewegungen von Wolken für einen kurzen Moment so präzise wie möglich zu beschreiben, um sich so ihrer diffusen Erscheinungsform anzunähern.

Die Auseinandersetzung mit den Spuren von Bewegungen in der den Menschen umgebenden Natur spielt auch in Bignia Wehrlis’ Arbeit eine Rolle. Oftmals setzt sie sich dabei mit langandauernden Prozessen auseinander, die für den Betrachter aufgrund dieser langen Zeitspanne normalerweise unsichtbar bleiben müssen. Hierfür baut die Künstlerin eigene Apparate, mit denen sie beispielsweise Spuren von Sternen oder die wandernde Bewegung des Mondes aufnimmt. Dabei geht es in Wehrlis ebenso konzeptionellen wie poetischen Arbeiten nie um die losgelöste Beschreibung eines naturwissenschaftlichen Phänomens, immer stehen diese in einem sichtbaren Bezug zum sie erfahrenden Menschen, der somit stets Teil des Prozesses ist. So zeichnet die Künstlerin beispielsweise in ihrer Arbeit Sternenschrift die Bewegungen ihres mit einem GPS ausgestatteten Vaters beim Mähen und Einbringen von Heu auf und bringt diese anschließend mit einem Fotoapparat sowie einem extra dafür entwickelten Instrument mit dem Licht eines Sterns mittels Langzeitbelichtung auf Fotopapier auf. Auch in ihren hier gezeigten Arbeiten kommen spezielle Apparate zum Einsatz. In A4 Fall (vertikal) wird ein auf Augenhöhe gehaltenes, weißes A4-Papier fallen gelassen und von der Künstlerin mit einer Hochgeschwindigkeitskamera aufgezeichnet. Die durch Reduktion und Reihung von ihr daraus entwickelte Collage macht wiederum die spezifische Bewegungsspur des Blatt Papiers im Raum sichtbar. Für die Videoarbeit Spitziges Portrait hat Wehrli an der Spitze eines mit zwei Haselruten verlängerten Astes eine Lochkamera befestigt. Von Hand geführt, versucht die circa 8 Meter lange Kameraführung in einem fragilen Balanceakt, ihr Gegenüber, die Spitze eines dürren Baumes, zu portraitieren.

Nicht das Unsichtbare in der Natur und natürlichen Prozessen, sondern in Beziehungen, seien es die zwischen Objekten oder die zwischen Menschen, spielt in den Arbeiten von Benno Hinkes eine Rolle. Auf den ersten Blick erinnern die Objekte seiner auf drei langen Sockelreihen in der Raummitte gezeigten Installation an Architekturmodelle, die mittels ihrer Formensprache die Zeit der 1960er und 70er Jahre wachzurufen scheinen. Damals entstanden im Rahmen der US amerikanischen Concept- und Minimal-Art formal sehr reduzierte Objekte, die aus industriell bearbeiteten Alltagsmaterialien bestanden und ausdrücklich auf nichts anderes verweisen sollten als auf sich selbst. Hinkes zitiert dieses selbstreferenzielle Vokabular, fügt seinen Objekten jedoch eine überraschende Ebene hinzu, indem er sie auf spielerische Weise zu Bestandteilen einer eigenen ‚Grammatik‘ werden lässt: Die einzelnen Objekte ebenso wie Figurengruppen als Ganzes sind im wörtlichen Sinne lesbar. Titel sowie ein im Ausstellungsraum platziertes Begleitheft machen sie dechiffrierbar und übersetzen in menschliche Worte, was die Objekte mittels ihrer geometrischen Gestik untereinander stumm zu verhandeln scheinen. Derselben Logik folgen auch zwei kleine, im hinteren Teil der Ausstellung platzierte Fotoarbeiten. Sie entstammen einer Serie von etwa 20 Collagen, die in enger Verbindung mit den Objekten entstanden. Auch bei diesen bringt der Künstler wieder seine Grammatik zur Anwendung, wobei nicht Worte in Objekte, sondern in einfache Handgesten übersetzt werden, die sich jenseits des Sagbaren zu Bildern von ganz eigener Wirkung formieren.


Text: Regina Weiss