Drei Beobachtungen zu Regina Weiss Arbeit Bodenstück aus der Serie Stadt im Vorübergehen


Erste Beobachtung
Ich trete mit dem Vorsatz an die Arbeit Bodenstück/Gehweg von Regina Weiss heran, etwas über sie zu denken und scheitere unweigerlich. Der Grund dafür liegt im Objekt selbst. Denn jedes mal, wenn ich mich ihm nähere, geschieht das gleiche: Während ich noch bemüht bin, das Stück zum Gegenstand meines Denkens zu machen, hat es mich seinerseits bereits erfasst, der Blick entgleitet mir, die Gedanken werden zum Rand hin unscharf, entziehen sich, driften ab ins Diffuse. Das Ergebnis: Nicht ich bin es, der etwas über das Stück denkt und dabei versonnen auf einen beliebigen Punkt in der Umgebung blickt. Das Stück ist es, das geschickt mein Auge einfängt und mein zielgerichtetes Denken in ein gedankenverlorenes überführt.

Zweite Beobachtung
Um über das Stück nachdenken zu können, muss ich mich erst wieder von ihm abwenden. Doch tue ich dies, kommen Zweifel in mir auf. Ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher, was es eigentlich ist, das ich da gesehen habe: etwas Materielles oder etwas Immaterielles? Für beides gibt es Anhaltspunkte: Einerseits liegt ein Etwas vor mir, das materieller nicht sein könnte. Ein Stück – per Hand in Ton modelliert und abgeformt in Gips – das ganz so wirkt, als habe es jemand frisch aus dem Gehweg herausgeschnitten und eben in den Ausstellungsraum gelegt. Andererseits ist das, was sich meinen Augen darbietet, alles andere als materiell: es ist ein flüchtiger Blick, geworfen von einem Passanten, fallen gelassen im Vorübergehen und hängen geblieben an irgendetwas Beliebigem im umgebenden Stadtraum: einer Ampel, einem Mann mit Hund, einem vorbeifahrenden Auto – oder eben: einer Gehwegplatte, die die Füße im hastigen Schritt über den Bürgersteig sogleich berühren werden, während das Auge fahrig für den Bruchteil einer Sekunde über sie hinwegschweift.

Dritte Beobachtung
Ich wende mich dem Stück also wieder zu und das Spiel beginnt von vorn. Mein Blick wird gefangen genommen und meine Gedanken beginnen zu wandern. Ich muss an die altgriechische Philosophie denken, an die Vorstellung, die es hier gab, dass sich mit jedem Blick, den ein Mensch auf ein Objekt richtet, ein kleiner Hauch dieses Objekts ablöst und ins Auge der Betrachtenden übergeht. Aber wäre es – ganz unabhängig von unseren modernen naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen – nicht auch umgekehrt möglich, dass jeder Blick, den wir auf ein Objekt richten, diesem ein klein wenig hinzufügt? Dass sich der Blick gleichsam in das Objekt einprägt? Jedenfalls ertappe ich mich dabei, wie ich in den leeren Raum hinter das Bodenstück blicke. Ich möchte intuitiv sehen, wer dort steht. Ich möchte wissen: Wer war es, der vor mir seinen Blick auf das Objekt geworfen und ihn dort, im Objekt eingelagert, zurückgelassen hat? Bei dem Gedanken beschleicht mich ein seltsames Gefühl – eine ähnliche Empfindung, wie man sie beim Gang durch eine alte Stadt verspürt, deren Bewohner so offensichtlich bemüht waren, materielle Zeugnisse ihrer selbst in Form von Gebäuden, Denkmälern, Palästen zu hinterlassen und die dennoch als Person, als die, die sie waren, heute restlos verschwunden sind. Man könnte das Gefühl eine kleine Melancholie nennen, allerdings verbunden mit der gleichzeitigen Freude darüber, dass es offenbar überhaupt möglich ist, einen flüchtigen Augenblick vom Betrachtenden abzuziehen und ihn in die Materie hinein zu verlagern. Das Objekt erscheint mir nun, da es meine Gedanken bis zu diesen Assoziationen getragen hat, wie ein Fossil, das menschliche Vergänglichkeit in sich einzuschließen vermag; oder auch als Materie gewordener Abdruck des Ephemeren, der selbst meinen eigenen Blick noch in sich aufnehmen und, wer weiß, vielleicht in sich bewahren wird.


Text: Dr. Benno Hinkes